8. Juli 2070

 

Liebe Menschen aus der Vergangenheit,

ich bin Christian und ich schreibe euch aus einem Berlin, das ganz anders aussieht, als ihr es noch kennt. Ich bin zehn Jahre alt und gehe gerne in die Schule, weil ich da so viel lerne. Heute Morgen hatten wir Politikunterricht und Wirtschaftskunde.

Im Politikunterricht lerne ich zum Beispiel, dass früher, also in eurer Zeit, Kinder und Jugendliche auf die Straße gingen und die Umsetzung von Zielen des Klimaschutzes forderten. Heute geht zumindest im Sommer niemand mehr auf die Straße — da ist es viel zu heiß! Ich habe noch nie gesehen, dass sich meine Eltern — oder sonst jemand — um den Klimaschutz gekümmert haben. Das ist angeblich auch nicht nötig, denn, so lernen wir es in Wirtschaftskunde, wenn der Markt den Klimaschutz regelt, wird alles gut. (1) Mich verwirren aber die Geschichten von meinen Großeltern. Sie sagen, dass ihr damals, als es noch Institutionen zum Klimaschutz gab, nicht so viele Überschwemmungen und Starkregen hattet. Bei uns mussten inzwischen unzählige Dörfer in engen Tälern aufgegeben werden, weil das Wasser die Häuser immer wieder weggerissen hat.

Meine Oma hat mir erzählt, dass es bei euch im Jahr 2021 ein wichtiges Urteil des Verfassungsgerichtes gab, das die damalige Regierung zu mehr Klimaschutz verpflichtete. (2) Meine Oma erzählte mir auch, dass danach aus dem Klimaschutz leider nichts wurde, weil die Regierung das Urteil weitgehend ignorierte, aus Angst den Menschen zu viel zuzumuten. Ist das wahr? Wir schwitzen jeden Tag und haben Wasserknappheit, weil ihr nach Mallorca fliegen wolltet? Heute macht niemand mehr Urlaub auf Mallorca – da ist es im Sommer so heiß, dass die Pflanzen verdorren. Diese schöne Insel hat sich durch Erosion und Dürren leider ziemlich verändert.

Ich habe im Politikunterricht auch gelernt, dass es einmal, auch im Jahr 2021, den Versuch eines Bürgerrats gab. Da saßen einfache Menschen drin, die über Gesetze und Vorhaben der Regierung beraten sollten, ob sie dem Klimaschutz helfen oder schaden. (3) Ich habe leider auch gelernt, dass kein einziger der guten Ratschläge des Bürgerrats in der Öffentlichkeit bekannt wurde, weil die Medien lieber über die Kosten der Transformation hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft diskutiert haben, statt über die Kosten des Weitermachens wie bisher. (4)

Meine Politiklehrerin erklärte uns auch, dass es einmal Überlegungen gab, einen sogenannten Zukunftsrat einzurichten. (5) So genau habe ich nicht verstanden, wozu der gut sein sollte, aber ich habe behalten, dass da Expert*innen drinsitzen sollten, die gute Vorschläge für neue Klimagesetze machen sollten. Aber leider wurde nie ein solcher Zukunftsrat eingerichtet. Eine Epoche, in der Experten und Expertinnen einen wirklichen Einfluss auf die Politik hatten, brach nie an.

In Wirtschaftskunde erklärte uns unser Lehrer, dass wir irgendwelche neuen Institutionen auch gar nicht brauchen. Es sei ohnehin viel besser, wenn Menschen, die etwas von Wirtschaft verstehen die Gesetze formulierten. (6) Dann ist allen geholfen: Die Wirtschaft kann Geld verdienen, indem sie schöne Dinge verkauft, die wir alle wollen. Ich frage mich da immer, ob hier zwischen langfristigem Geldverdienen und kurzfristigem Geldverdienen unterschieden wird. Wenn die Wirtschaft langfristig Geld verdienen will, dann kann sie doch auch kein Interesse daran haben, dass der Planet kaputt geht.

Unser Schulleiter sagte kürzlich bei einer Schulveranstaltung, dass damals, also in eurem Jahr 2021, die Gefahr einer „Ökodiktatur“ bestanden hätte. Eine neue Art der Diktatur, mit der die Menschen geknechtet und ihrer Rechte beraubt werden sollten. (7) Wir bekamen richtig Angst, als er das erzählte.

Im Jahr 2070 haben wir also keinen Zukunftsrat, keinen Bürgerrat, und das Verfassungsgericht hat schon lange kein Urteil zum Klimaschutz mehr abgegeben.

Viele Grüße

 

Euer Christian

 


(1) Eine gegenteilige Meinung vertritt z.B. Sabine Nallinger, Vorständin der Stiftung 2° (vgl. Neue Energie 2019). Auf die Frage, ob der Markt auch den Klimaschutz „richten“ kann, antwortet sie: „Nein, mit Blick auf die Größe der Transformation unserer Wirtschaft merken wir, dass es der Markt – so wie er heute ausgestaltet ist – nicht regelt.“ Das dahinterstehende, strukturelle Problem ist, dass künftige Menschen heute noch keine Marktteilnehmer*innen sind. Die politische Gemeinschaft muss daher Ziele vorgeben. Dann wiederum können marktbasierte Lösungen (Stichwort: CO2-Handel) den kostengünstigsten Weg zur Zielerreichung aufzeigen.

(2) Vgl. Bundesverfassungsgericht 2021.

(3) Vgl. Bürgerrat 2021.

(4) Es gibt in der Gegenwart eine Debatte darüber, ob die Klimaberichterstattung der Größe des Problems angemessen ist. Zum Teil wird ein fester Sende-Platz über Nachrichten zur Klimakrise gefordert, z.B. jeden Tag fünf Minuten vor Beginn der ARD-Tagesschau.

(5) Vgl. Tremmel 2018; SRzG 2020.

(6) Die Plattform LobbyPlag sammelt Gesetzesvorhaben der Europäischen Kommission sowie die „Anmerkungen“ („Amendments“) von Wirtschaftsvertretern und zeigt auf, wie Gesetze zugunsten von Unternehmen verändert werden (LobbyPlag 2021).

(7) Ein Beispiel der apokalyptischen Darstellung: „Ein Klima-Lockdown rückt näher. Bei dieser Art von Lockdown würden andere bestimmen, wie die Bürger zu leben, zu essen und zu wohnen haben. Das Grundgesetz würde praktisch ausgehebelt werden.“ (Deutsche Wirtschaftsnachrichten 2021).

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